Die Losgelassenheit ist gekennzeichnet durch regelmäßiges An- und Entspannen der Muskulatur, setzt Zwanglosigkeit voraus und beinhaltet innere Gelassenheit.“ So weit die Definition der FN-Richtlinien für Punkt zwei auf der Skala der Ausbildung. Ohne Losgelassenheit ist aber auch Punkt eins schwerlich zu erreichen, der Takt. Und alle nachfolgenden Punkte noch viel weniger. Udo Bürger hat in seinem Klassiker „Vollendete Reitkunst“ einen anschaulichen Vergleich dafür herangezogen, wie sich mangelnde Losgelassenheit auswirkt: Wenn man einen Eimer Wasser am rechtwinklig gebeugten Arm hochhalten soll, wird die Muskulatur früher oder später verkrampfen, weil sie nicht mehr entspannen kann. Losgelassenheit beinhaltet die Fähigkeit, die Muskulatur bis aufs Äußerste anzuspannen, sie danach aber auch wieder zu entspannen. Es geht also nicht um das Fehlen von Spannung im Bewegungsablauf, sondern darum, nicht in der Anspannung zu verharren und zu verkrampfen. Losgelassenheit ist gerade in den Momenten der größten Leistungsanforderungen zwingend notwendig.

Losgelassenheit-eine-vergessene-tugendElementar wichtig ist dabei die innere Losgelassenheit. Angst, Schmerz, Unbehagen führen zu Anspannung des Körpers und letztlich zur Verkrampfung. Druck seitens des Reiters ist hier kontraproduktiv. Stattdessen ist Geduld gefordert, wie z.B. bei Bürgers Denkmalübung, in der das Pferd lernen soll, sich innerlich und äußerlich so zu entspannen, dass es ruhig stehen bleibt so lange der Reiter es will. Erst ein losgelassener Körper kann seine volle Leistungsfähigkeit entfalten. Das wiederum führt zu mehr Selbstsicherheit beim Pferd und damit zu mehr Zufriedenheit, Gelassenheit und Ausstrahlung.

Bürger betont, dass Losgelassenheit nichts mit Lösen zu tun hat, sondern mit einer konsequenten Erziehung, die – siehe oben – am Anfang der Ausbildung steht. Ein vollendet ausgebildetes Pferd kann aus dem Stall geholt und nach einigen individuell zu gestaltenden Minuten der Lockerung alle Lektionen unverkrampft präsentieren. Daraus folgt: Losgelassenheit hat auch etwas mit der inneren Bereitschaft zu tun.

Losgelassenheit: Der Reiter ist in der Bewegung

Wie fühlt sich Losgelassenheit an? Ein losgelassenes Pferd nimmt den Reiter in der Bewegung mit. Die Richtlinien sagen: „Pferde, die dazu neigen, den Reiterhilfen zuvorzukommen, werden durch das Erreichen der Losgelassenheit ruhiger. Triebige Pferde, die nicht so sensibel wie gewünscht reagieren, werden gehfreudiger.“ Die äußeren Merkmale der Losgelassenheit sind ein zufriedener Gesichtsausdruck, ein gleichmäßig schwingender Rücken, der frei getragene, pendelnde Schweif, der auf- und im richtigen Verhältnis zum Gangmaß nach vorne gewölbte Oberhals, entspannte Atmung, ruhige Maultätigkeit, Abschnauben, Dehnungsbereitschaft, Konzentration und Akzeptanz der Reiterhilfen.

Leider sind dies Tugenden, die man auf dem Turnier – egal, ob im Spitzen- oder Breitensport – nur noch selten zu Gesicht bekommt. Die Richter selbst scheinen ein losgelassenes Pferd nicht mehr von einem strampelnden Blender unterscheiden zu können. Die Folge: Vorzeitig verschlissene Pferde, Reiten als Kampf- und Kraftsport.