Es ist noch nicht lange her, da wurde die Deutsche Reitlehre in Nordrhein-Westfalen zum Immateriellen Kulturerbe erklärt. „Gruppen und Gemeinschaften, die lebendige Traditionen ausüben und kreativ weitergeben“ können sich für diesen Titel bewerben. Mit der H.Dv.12 wurde vor 110 Jahren zum ersten Mal das System niedergeschrieben, das entwickelt wurde, um Heeresremonten für den Kriegsdienst auszubilden. Das Ziel: gehorsame, angenehm und auch für ungeübte Rekruten einfach zu reitende Pferde, die möglichst lange halten, also gesund erhalten werden sollen. Aus dieser Zielsetzung leitet sich die Skala der Ausbildung ab, die letztendlich das Fundament jeglicher Nutzung des Pferdes durch den Reiter ist. Bis heute und längst nicht mehr nur in Deutschland, sondern (fast) überall auf der Welt, wo „klassisch“ bzw. „englisch“ geritten wird, wie es heißt. Aber ist diese Tradition wirklich noch so lebendig? Wer sich manchen 70-, 80 Prozent-Ritt anschaut, oder wer auf einem ländlichen Springturnier bei einem A-Zeitspringen zuschaut, könnte geneigt sein, das infrage zu stellen.

Bleiben wir bei der Dressur, die ja schließlich die Basis für alles ist. Die Basis für alles, das sind auch Takt, Losgelassenheit, Anlehnung, die drei Punkte in der Gewöhnungsphase der Skala der Ausbildung. Unabhängig davon, ob ich eines Tages S-Dressur oder -Springen reiten, oder ob ich einfach nur ins Gelände bummeln möchte, diese drei Bausteine sind das Fundament, auf dem alles aufbaut. Doch was sehen wir im derzeit so kontrovers diskutierten Spitzensport, dem die „social license“, also die Billigung der Gesellschaft, abhanden zu kommen droht? (Von Begeisterung für den Pferdesport wollen wir lieber gar nicht erst anfangen) Wir sehen Grand Prix-Prüfungen mit passartigem Schritt, der immer noch mit Noten um 6,0 bewertet wird. Wir sehen Pferde, die konstant hinter dem Gebiss sind und dabei so eng, dass Rücken- und Hinterhandtätigkeit physiologisch eingeschränkt sind. Das kann mit oder ohne Handeinwirkung passieren, falsch ist beides und darf nicht mit Wertnoten um 80 Prozent belohnt werden. Wird es aber. Und was ist mit den abenteuerlichen Gebisskonstruktionen, die international vom Weltverband FEI gebilligt werden. Da sind Pferde mit drei Nasenriemen, zwei Gebissen – eins davon mit Hebelwirkung – und einem Martingal dazu. Wieso wird so etwas erlaubt? Sicherlich, nicht jedes Pferd ist gleich und bei dem einen oder anderen mag eine etwas schärfere Zäumung pferdefreundlicher sein als die Alternative, nämlich eine riegelnde Reiterhand. Aber wer mal einen Marcus Ehning oder einen Scott Brash bei der Dressurarbeit beobachtet hat, dem wird aufgefallen sein: Sie arbeiten vor allem an Durchlässigkeit und Balance. Auf Wassertrense. Und auch im Parcours sieht man sie selten mit scharfen Gebissen. Im Gegensatz zu anderen, die die mit einem halben Eisenwarenladen bewaffnet antreten.

„Genau diese Arbeit an der Basis ist es, die pferdefreundlichen Sport sicherstellt.“

Auf Nicht-Reitsportler wirkt das einfach nur martialisch. Und mancher Reiter denkt sich womöglich, dass das doch eine viel praktischere Lösung ist, um die Kontrolle im Parcours sicherzustellen, statt sich mit öder Dressurarbeit zu beschäftigen. Aber genau diese Arbeit an der Basis ist es, die pferdefreundlichen Sport sicherstellt. Fehler passieren. Und der Weg hin zu einem vollendet durchlässigen und gymnastizierten vierbeinigen Partner ist lang. Jeder Ausbilder weiß das. Und jeder gute Ausbilder weiß auch: Die Lösung für die meisten Probleme steckt in der Arbeit an der Basis. Wenn aber trotz Takt- und Anlehnungsfehlern und mangelnder Losgelassenheit Spitzennoten vergeben werden und ab einem gewissen Niveau im Parcours alles erlaubt ist, was die Eisenschmiedekunst hergibt, dann wird bald niemand mehr die Notwendigkeit sehen, das Immaterielle Kulturerbe lebendig zu halten. Die Deutsche Reitlehre gibt alles her, was es braucht, um pferdegerechten Sport zu garantieren. Aber man muss eben auch auf die Einhaltung ihrer Prinzipien pochen, egal in welcher Funktion, ob als Reiter, Ausbilder oder Richter. Denn sonst wird der Reitsport über kurz oder lang das sein, was PETA schon heute verlangt: ein Eintrag in den Geschichtsbüchern.