Stefan Stammer bereist als Osteopath für Pferde die ganze Welt. Sein Buch „Das Pferd in positiver Spannung“ ist 2016 im FN-Verlag erschienen. Ein Interview.

Xenophon: Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen Ihrer Arbeit und der klassischen Ausbildung?
Stefan Stammer: Die meisten Reiter sind bemüht, ihre Pferde entsprechend der Skala der Ausbildung zu reiten. Aber nicht jedes Pferd findet über „lang und tief“ zu Takt und Losgelassenheit. Wir haben heute viele verschiedene Körpertypen unter den Pferden: solche mit festem Bindegewebe und solche mit weichem; eher steife Pferde und diejenigen, die eher hypermobil sind. Darauf muss ich als Ausbilder eingehen. Das eine Pferd braucht ein höheres Grundtempo, das andere muss ruhiger geritten werden. Manche brauchen eine tiefe Einstellung, für andere ist diese eher schädlich. Das Ziel ist für alle gleich: Takt und Losgelassenheit. Doch nicht jedes Pferd findet über denselben Weg dorthin. Darum steht am Anfang meiner Behandlung eine Funktionsanalyse, bei der ich schaue, wo sind die Stärken und Schwächen des jeweiligen Pferdes. Vor allem die Grundausbildung muss sich an den schwächsten Gliedern in der Kette orientieren. Diese müssen zunächst erkannt und gestärkt werden, bevor man die Stärken weiter fördern darf. Ein Beispiel: Ein Pferd mit einer maximalen Bewegungsmechanik und hochelastischem Bindegewebe darf in der ersten Ausbildungsphase maximal mit 70 Prozent seiner Bewegungsmechanik gearbeitet werden. Man kann ein solches System zwar unter Spannung taktmäßig reiten, aber sobald diese verloren geht, ist das Pferd in seiner Mechanik hilflos. Somit ist der zweite Schritt Losgelassenheit niemals erreichbar. Wird das Pferd eher ruhig, aber mit dem nötigen Rahmen und positiver Körperspannung geritten, ist der anfängliche Weg für das Pferd meist anstrengender, aber Losgelassenheit und reelle Anlehnung bleibt erreichbar. Ich gebe dem Reiter keine vorgekochten Rezepte mit auf den Weg, sondern ein individuelles Bewegungsprofil seines Pferdes. Es bleibt seine Aufgabe, den Weg und die Methodik der Ausbildung selbst zu entwickeln. Selbstverständlich gibt es spezifische trainings- physiologische Grundsätze, die ich je nach Situation auch empfehle.

Erkennen Sie in der Therapie klassisch ausgebildete Pferde? Wenn ja, woran?
Ich erkenne korrekt ausgebildete Pferde in der Regel sehr gut. Vor allem durch ihr Bewegungsprofil während meiner Arbeit. Sie haben eine ausgeprägt gute Körperwahrnehmung und die Fähigkeit sich innerhalb meiner manuellen Funktionsanalyse immer wieder gut auszubalancieren. Oft kann ich die tatsächlichen reiterlichen Schwierigkeiten des Pferdes sehr gut beschreiben, ohne das vorher gesehen zu haben. Das ist manchmal für den Reiter ganz schön verrückt.

Und wie machen Sie das?
Der Pferdekörper verrät es. 
Die Arbeit in Funktionsketten bestimmt die Bewegung. Ein Defizit innerhalb einer Funktionskette, sei es Schwäche, Steifheit, Schmerz oder fehlerhafte Koordination führt zu Defiziten in der Bewegung.

Sie benutzen den Begriff „positive Spannung“, der von vielen – z. B. Paul Stecken – abgelehnt wird…
Der Begriff „Spannung“ hat in der Reitersprache eine negative Konnotation. Doch er gehört zur Bewegung dazu. Losgelassenheit ist das „zweckmäßige An- und Abspannen der Muskulatur“. Das sagt alles: Ein Pferd braucht An- UND Entspannung, um sich losgelassen zu bewegen. Die reine Entspannung ist ebenso falsch und gesundheitsschädlich, wie dauerhafte Anspannung. Es geht um das Wechselspiel. In diesem Sinne ist die Spannung dann etwas Positives. Herr Stecken, den ich ob seines Lebenswerks für die Pferde sehr verehre, hat in seinem Sprachgebrauch natürlich Recht. Aber die Welt, die Sprache und die Vorbildung der Reiter entwickelt sich weiter. Daher denke ich sollte man Aussagen immer auf ihren Inhalt hin überprüfen und nicht auf die bloßen Vokabeln.

Wenn Sie einen Wunsch an die Reiter hätten, was wäre das?
Dass sie sich Gedanken darüber machen, was für ein Körpertyp ihr Pferd ist, wie seine
Bewegungsmuster sind und sich dementsprechend einen Trainingsplan machen.